Als vor zehn Jahren die gezielten rassistischen Morde, Sprengstoffanschläge und Banküberfalle des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) öffentlich wurden, haben sie eine im Nachkriegsdeutschland bislang unbekannte Dimension des Rechtsterrorismus offengelegt. Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter hießen die Menschen, die von den mutmaßlich drei Mitgliedern der rechtsextremen Terrorgruppe zwischen 2000 und 2007 ermordet wurden. Jahrelang berücksichtigten weder Polizei noch Verfassungsschutz ein rechtsextremes Motiv für die Taten. Viele Familien der Opfer wurden durch eine abwertende oder verharmlosende Medienberichterstattung sowie die Arbeit der Sicherheitsbehörden stigmatisiert und erhielten nicht die ihnen zustehende staatliche Unterstützung. Die systematischen Verbrechen des NSU wurden erst im November 2011 bekannt, als die Gruppe enttarnt wurde. Am 6. Mai 2013 wurde die Hauptverhandlung gegen Beate Zschäpe und insgesamt vier Mitangeklagte, denen Beihilfe vorgeworfen wurde, am Oberlandesgericht München eröffnet.
Aufdeckung des NSU, erste Spuren und Festnahmen
Als sich Polizisten am 4. November 2011 in einem Vorort des thüringischen Eisenach einem Wohnmobil näherten, in dem sie zwei flüchtige Bankräuber vermuteten, fielen im Fahrzeug zwei Schüsse und es geriet wenig später in Brand. In dem Wohnmobil fand die Polizei die Leichen zweier Männer, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Im sächsischen Zwickau zündete am selben Tag Beate Zschäpe, die Wohnung an, die sie mit Mundlos und Böhnhardt im Geheimen bewohnt hatte – mutmaßlich, um Beweise zu vernichten. Daraufhin kam es in dem Wohngebäude zu einer Explosion und die Polizei begann nach Zschäpe zu fahnden.
Am 7. November 2011 gab die Polizei zunächst bekannt, dass neben weiteren Waffen auch die Dienstpistolen einer 2007 in Heilbronn erschossenen Polizistin und ihres Kollegen in dem Wohnmobil entdeckt wurden. Einen Tag später stellte sich Beate Zschäpe der Polizei. Ermittlerinnen und Ermittler fanden in ihrer ausgebrannten Zwickauer Wohnung zahlreiche Schusswaffen, darunter eine Pistole des Typs, die bei einer von 2000 bis 2006 andauernden Mordserie an Menschen mit Migrationshintergrund verwendet worden war. In der Wohnung der Rechtsterroristen stellte die Polizei auch ein 15-minütiges Video sicher, in dem sich der NSU enttarnte und mit seinen Verbrechen prahlte. In dem Propagandafilm fanden sich Hinweise darauf, dass die Rechtsterroristen auch für den Nagelbombenanschlag in Köln im Jahr 2004 verantwortlich waren, bei dem 22 Menschen teilweise schwer verletzt wurden.
Am 11. November erklärte die mittlerweile federführende Bundesanwaltschaft, dass sie Verbindungen zwischen der Mordserie und dem Polizistinnenmord sehe. Am 13. November erließ der Bundesgerichtshof (BGH) einen Haftbefehl gegen Beate Zschäpe wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. An demselben Tag nahm die Polizei in Niedersachsen Holger G. als potenziellen Mittäter fest. Bis Februar 2012 inhaftierte die Polizei vier weitere mutmaßliche NSU-Unterstützer: den als Neonazi bekannten Ralf Wohlleben, André E., der das Bekennervideo produzierte, den an der Waffenbeschaffung beteiligten Carsten S. und Matthias D., der die Zwickauer Wohnung bereitgestellt haben soll und später wieder frei gelassen wurde.
Radikalisierung der Gruppe und Bildung des NSU
Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt wuchsen in Jena auf und kamen früh mit der dort Anfang der 1990er-Jahre weit verbreiteten rechtsextremen Jugendkultur in Verbindung. Besonders in den neuen Bundesländern gründeten sich in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung gewaltbereite Neonazi-Gruppen. Die Ideologie der NPD prägte Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe in ihren Jugendjahren maßgeblich und sie beteiligten sich an Aufmärschen der Partei. Bereits 1995 gründeten die drei gemeinsam mit Ralf Wohlleben und Holger G die
1996 stellten Mundlos, Zschäpe und Böhnhardt erste Bomben her und verschickten mehrere Attrappen von Sprengsätzen an das Rathaus und die Jenaer Polizei sowie in eine Zeitungsredaktion. Infolgedessen durchsuchten 1998 Ermittlerinnen und Ermittler die Wohnungen und Garagen der Gruppe. Dabei fanden sie unter anderem Rohrbomben, woraufhin ein Haftbefehl gegen Böhnhardt erlassen wurde. Bei den Durchsuchungen unterliefen den Sicherheitsbehörden jedoch schwere Fehler, den Rechtsterroristen gelang die Flucht. Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe tauchten unter und finanzierten sich in den folgenden Jahren insbesondere mit Bank- und Raubüberfällen.
Opfer des NSU
Am Samstag, den 9. September 2000, vertrat der damals 38-jährige Enver Şimşek einen Angestellten an seinem mobilen Blumenstand in Nürnberg. Beim Sortieren von Blumen in seinem Lieferwagen wurde er gegen Mittag von zwei Männern mit einer Schusswaffe ermordet, mehrere Kugeln trafen ihn in den Kopf. Der schwer verletzte Şimşek wurde erst Stunden später gefunden und verstarb zwei Tage später, am 11. September 2000, an den Folgen des Attentats.
Der 50-jährige Ismail Yaşar wurde im Juni 2005 im Verkaufscontainer seines Nürnberger Imbisses erschossen. Sechs Tage später töteten die Rechtsextremen den griechischstämmigen Münchner Theodoros Boulgarides in seinem Schlüsseldienst. Im April 2006 starben bei den Attentaten der 39-jährige Mehmet Kubaşik in seinem Dortmunder Kiosk sowie Halit Yozgat, der 21-jährige Betreiber eines Kasseler Internetcafés. Im April 2007 erschossen Mundlos und Böhnhardt in Heilbronn die Polizistin Michèle Kiesewetter und verletzten deren Kollegen lebensgefährlich. Hintergründe und Motiv dieser Tat sind bis heute in weiten Teilen ungeklärt.
Die drei Mitglieder des NSU hatten ein Netzwerk an Unterstützerinnen und Unterstützern sowie Sympathisantinnen und Sympathisanten, dessen genauer Umfang bis heute nicht eindeutig identifiziert ist.
Versagen der Sicherheitsbehörden
Wegen der misslungenen Suche nach Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt und den jahrelangen, erfolglosen Ermittlungen der nicht als rassistisch erkannten Mordserie sowie der Stigmatisierung ihrer Opfer, stehen die Sicherheitsbehörden seit der Enttarnung des NSU in der Kritik. Bereits ab Mitte November 2011 kamen immer mehr Versäumnisse im Umgang mit dem NSU an die Öffentlichkeit. So hatten Polizeibehörden Spuren, die in Richtung von rechtsterroristischen Taten deuteten, nicht oder nicht ausreichend verfolgt. Ein Großteil der Ermittlerinnen und Ermittler waren lange davon ausgegangen, dass der Hintergrund der Morde mit organisierter Kriminalität im Umfeld der Opfer zusammenhänge. In diesem Kontext gegründete Sonderermittlungskommissionen trugen Namen wie "Halbmond" oder "Bosporus".
Nach Aufdeckung der Mordserie warfen Kritikerinnen und Kritiker den Sicherheitsbehörden vor, die rechtsextremen Terrorakte verharmlost und stattdessen das Opferumfeld oftmals als mögliche Täter vermutet zu haben. Heftige Kritik gab es auch an den Verfassungsschutzbehörden: Deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ermittelten in vielen Fällen nachlässig – Hinweise von V-Leuten wurden nicht weitergegeben, wichtige Akten wurden vernichtet.
Im August 2013 legte der
Auch Landtage richteten NSU-Ausschüsse ein. Der Großteil der Aufklärungsgremien hat mittlerweile seine Arbeit abgeschlossen. Zuletzt wurden Forderungen laut, erneut einen NSU-Untersuchungsausschuss einzurichten, um offenen Fragen im Aufarbeitungsprozess nachzugehen.
Der NSU-Prozess
Im Mai 2013 eröffnete das Oberlandesgericht München die Hauptverhandlung gegen Beate Zschäpe und die vier Mitangeklagten. In dem mehr als fünf Jahre dauernden
Das Gericht sprach Zschäpe im Juli 2018 nach 430 Verhandlungstagen des zehnfachen Mordes schuldig. Nach Abwägung aller Beweise und Indizien sah der vorsitzende Richter die damals 43-Jährige als gleichberechtigtes Mitglied eines eingeschworenen Trios an, das gemeinsam den Beschluss gefasst habe, Menschen aus rassistischen Motiven zu töten. Die Ausführung der Taten hätte ohne Zschäpe nicht gelingen können, so die Richter. Sie habe die Zuflucht von Mundlos und Böhnhardt im Untergrund organisiert.
Zschäpe wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Richter erkannten bei ihr eine besondere Schwere der Schuld. Auch die Mitangeklagten wurden zu Haftstrafen verurteilt, darunter der ehemalige NPD-Funktionär Ralf Wohlleben, der die Tatwaffe besorgt haben soll. Er erhielt wegen Beihilfe zum Mord eine zehnjährige Gefängnisstrafe. André E. wurde wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Holger G. wurde zu drei Jahren Haft verurteilt. Er hatte nach eigener Aussage einmal eine Waffe überbracht sowie Personalpapiere für Böhnhardt beschafft. Carsten S., der gestanden hatte, im Jahr 2000 die Tatwaffe überbracht zu haben, wurde zu einer Jugendstrafe von drei Jahren verurteilt.
Im August dieses Jahres bestätigte der BGH das Urteil gegen Zschäpe sowie gegen Ralf Wohlleben und Holger G. Im Fall von André E. entscheidet der BGH voraussichtlich im Dezember dieses Jahres über eine mögliche Revision des Urteils. Carsten S. hat seine Haftstrafe bereits verbüßt.
Kritikerinnen und Kritiker des Prozesses hielten die Haftstrafen für die NSU-Helfer für zu milde. Zudem bemängelten Angehörige der Opfer, dass zentrale Fragen wie die Verstrickung der Sicherheitsbehörden in den NSU-Komplex oder dem NSU-Netzwerk unbeantwortet geblieben seien. Schon in den ersten Verhandlungstagen wies die Staatsanwaltschaft entsprechende Anträge von Nebenklägern ab. Der Prozess, so die Begründung, sei kein Ort für die Suche nach weiteren NSU-Helfern.
Rechtsextremer Terror in Deutschland
Auch in der jüngeren Vergangenheit kam es immer wieder zu rechtsterroristischen Anschlägen in der Bundesrepublik. Am 22. Juli 2016 erschoss der 18-jährige David S. aus rassistischen Motiven
Auch vor den Taten des NSU hatte es in der Bundesrepublik immer wieder rechtsextremistisch motivierte Terrorakte gegeben: 1980 wurden bei einem
Am 4. November, dem zehnten Jahrestag der Aufdeckung des NSU, finden auch in diesem Jahr zahlreiche Gedenkkundgebungen für die NSU-Opfer statt.
Johannes Radtke:
Interner Link: Der "Nationalsozialistische Untergrund" (NSU) - Interner Link: Rechtsterrorismus (APUZ 49-50/2019)
Interner Link: Aussteigerprogramme für Rechtsextremisten (Hintergrund aktuell, April 2021) Annette Ramelsberger:
Interner Link: Nach dem NSU-Prozess: Leerstellen und Lehren NSU-Prozess:
Interner Link: Urteil nach fünf Jahren (Hintergrund aktuell, Juli 2018) Heike Kleffner:
Interner Link: Der NSU und die Medienberichterstattung Vor 20 Jahren:
Interner Link: Ermordung von Enver Şimşek durch den NSU Tom Sundermann:
Interner Link: Der Weg zum NSU-Urteil